Berichte eines Home-Officers – Das zweite Wochenende
Das zweite Wochenende – Escape from Planet Home Office
Week-end, ein französischer Experimentalfilm aus dem Jahr 1967 und ein Klassiker des neuen Kinos der Sechziger ist nicht jedermanns Sache. Eine Stunde und 45 Minuten voll bruchstückhafter Zitate, montierter Referenzen, grellbunt inszeniertem Chaos, zusammenhangsloser Dialoge und – typisch für den Regisseur Jean-Luc Godard – Autounfälle. Bild, Ton und Handlung verlaufen non-linear, und scheinen zuweilen wenig miteinander zu tun zu haben. Es beginnt mit einem harmlosen Ausflug eines jungen Pärchens aufs Land. Die sonnige französische Landschaft bietet jedoch bald den Hintergrund für mehr und mehr irritierende, ja apokalyptische Arrangements, die sich um die soziale und technische Absurdität der Wochenendgestaltung im Zeitalter des Automobils drehen, im Cabrio wird über Marx und Jesus gestritten. Blutige Unfälle und zirkushafte Stauszenen münden in ein revolutionär-endzeitlich gefärbtes Setting im tiefen Wald, Unterstände, Kannibalen in Indianerkluft, Müllkutscher rezitieren Guerilla-Manifeste. Prügeleien, es wird sogar geschossen. Filmgenuss der gehaltvollen Art ist genau wie die Lektüre eines guten Buches ein Mittel, Hüttenkoller und Apathie eine Zeit lang in Schach zu halten.
Wenn man nach einigen Wochen Kontaktsperre bei einem solchen Film angekommen ist – der offensichtlich schon zu seiner Entstehungszeit als Belastungsprobe für das Publikum konzipiert worden war – ist es entscheidend, sich entsprechend vorzubereiten: Ein robuster Aperitif, eine gute Flasche Wein (oder zwei), angemessene Beleuchtung, interessierte, jedoch nicht zu mitteilsame Gesellschaft (wenn möglich keine sogenannten „Cineasten“), ein paar Packungen Filterlose. Rollkragenpullover vielleicht, auf jeden Fall keine Jogginghose.
Waghalsige Eskapade: ein Ausflug ins (mehr oder weniger Grüne)
Im Rückblick verschwimmt das alles etwas, aber es erscheint mir wahrscheinlich, dass der Filmgenuss mich zum Ausflug inspiriert hat, vielleicht war es auch andersherum. Kurz, um mich auf weitere Wochen Kontaktverbot, Home Office und ruckelige Videocalls vorzubereiten, erteilte ich mir selbst die Erlaubnis, einen Ausflug ins Grüne zu machen – auf die Gefahr hin in einer Straßensperre zu enden und Bundeswehr-Reservisten in Schutzanzügen irgendwelche Fragen beantworten zu müssen. Um meiner Bürgerpflicht zur Ansteckungsverhütung gerecht zu werden, entschied ich mich für einen einsamen Waldspaziergang, auf die Gefahr hin, von wilden Tieren oder herabfallenden Ästen in eine mit Corona-Patienten überfüllte Notaufnahme befördert zu werden. Ist aber nicht passiert. Insgesamt war es eigentlich recht geruhsam. Die wenigen Einheimischern, die ich zu Gesicht bekam waren distanziert, jedoch friedlich, die Infrastruktur der Bundesstraßen funktioniert noch leidlich, mein vorbereitetes Überlebenspaket (mit Keksen) war ausreichend kalkuliert. Es war ein wenig ruhiger als beim letzten Mal im Grünen, aber trotzdem in Ordnung. Leider ist es ans Meer zu weit. In Erwartung des Schlimmsten hatte ich meine Hermes-Tasche zuhause gelassen. Man muss sich ja auch auf etwas freuen, wenn man zurückkommt.
Über den Autor:
Roman Leonhartsberger ist Architekt, Stadtplaner, Lehrbeauftragter für Städtebau an der Hochschule München und seit neustem Home-Officer.
Illustration: Juri Agostinelli