Berichte eines Home-Officers – Tag 18
Tag 18 – Die wiedergefundene Zeit
Die Stimmen der Erkenntnis mehren sich: Homeoffice ist längst nicht mehr das vermeintliche Privileg der Selbstbestimmten, sondern für viele eher eine weitere Blüte der Selbstausbeutung, der schleichenden Entgrenzung von Arbeit und Privatem, ein Merkmal der Liberalisierung der Arbeitswelten. Alle würden gern zur gewohnten Normalität zurückkehren. Einstweilen aber werden die Aufwände und Risiken in den "privaten Sektor" externalisiert: Seht doch zu, wie Ihr klarkommt mit Kindern, Partnern und Vogelbad. Deadlines sind aber bitte trotzdem einzuhalten.
In ein paar Monaten werden wir überschwemmt werden von Studien und Artikeln, die aufarbeiten werden, wie sich die massenhafte Verlagerung der Erwerbstätigkeit in den häuslichen Bereich psychologisch und sozial auswirkt. Ein neues Forschungsfeld ist geboren. Ich habe mich mittlerweile daran gewöhnt, habe eine hübsche Dünndruckausgabe von Prousts „Suche nach der verlorenen Zeit“ gekauft und bilde mir ein, es bald zu lesen, jetzt, wo ich so viel zu Hause bin. Selbstbetrug ist in Zwangslagen immer schon hilfreich gewesen, wenigstens für eine Weile. Der gestrige, verstohlene Abstecher ins Büro hat mir gezeigt, dass auch dort das Gras nicht grüner ist. Es hat mir aber die Schönheit des Arbeitsweges wieder vor Augen geführt, auf dem man andere Menschen trifft und Wetter, Stadt und Umgebung jeden Tag neu erleben kann. Die Anregungen warten auf uns, egal in welchem Feld wir tätig sind und Abwechslung und die Teilnahme am Leben da draußen helfen dabei, sich auf Trab zu halten und bewahren vor Eintönigkeit und Langeweile. Man muss sich neuen Themen und Eindrücken eigenständig nähern, und da Tegernsee und Zugspitze vermutlich mit Flatterband abgesperrt sind, unternehme ich das, was ich schon immer viel spannender fand: Am Wochenende fahre ich wieder raus in eine der schönen Großwohnsiedlungen, die uns die Sechziger- und Siebzigerjahre so reichlich hinterlassen haben und die uns daran erinnern, wie fremdartig und interessant die nächste Nachbarschaft sein kann, wenn man ihr mit frischem, aufmerksamem Blick begegnet, einem entschleunigten Blick. Ich erfreue mich an diesen Stadtlandschaften, Zeuginnen einer Epoche der großen, fantastisch kompletten Rezepte. Natürlich falle ich auf: Die langhaarige Erstbewohnerschaft in ausgebleichten Motorradkutten identifiziert mich auf der Stelle als Tourist und betrachtet mich freundlich und unverhohlen, dann werden weiter die Enten gefüttert. Alles wirkt verschlafen an diesem Osterwochenende, fast so wie damals, als die Wohnscheiben nagelneu waren und die Stadt viele, viele Straßenbahnstationen entfernt.
Über den Autor
Roman Leonhartsberger ist Architekt, Stadtplaner, Lehrbeauftragter für Städtebau an der Hochschule München und seit neustem Home-Officer.
Illustration: Juri Agostinelli